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Logbuch der SY Seluna

Die Geschichte der wilden Marquesas

Henua Enana - unser Land - so heissen die Marquesas eigentlich. Die 14 Inseln mit heute insgesamt 9'000 Einwohnern liegen 4'000km südlich von Hawaii, 500km vom nächsten Toamotu-Atoll entfernt und 1'400km nordöstlich von Papeete. Stellt Euch diese Entferungen einmal vor. Französisch Polynesien bedeckt eine Fläche von der Grösse Europas.
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Die Geschichte der Marquesas liegt etwas im Dunkeln und die Quellen widersprechen sich heftig. Besiedelt wurden die Inseln vermutlich irgendwann zwischen 600 v.Chr. bis 500 n.Chr. Auch unklar ist, von wo die ersten Siedler kamen. Vielleicht von Taiwan aus, vielleicht aber auch später von Samoa und Tonga her. Es gibt Quellen, die besagen, die Marquesas seien die ersten bewohnten Inseln im heutigen Französisch Polynesien gewesen. Jedenfalls wurden von hier aus nebst Neuseeland auch die Hawaii-Inseln besiedelt, darin ist man sich wiederum ziemlich sicher. Deutlich zeigt das auch die Nähe der beiden Sprachen: das marquisische Ka'oha entspricht dem hawaiianischen Aloha.
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In den tief eingeschnittenen und durch die üppige Vegetation recht isolierten Tälern der Marquesas entwickelten sich verschiedene Sippen. Die komplizierte Gesellschaftsstruktur war geprägt durch Abhängigkeiten, Rechte, Tabus (= Verbote) und Mitsprachemöglichkeiten. Die Stammeshäuptlinge besassen das Recht über alle Ressourcen. Regelmässig wurden Tanzwettbewerbe durchgeführt und die beste Tänzerin wurde eine weitere Frau des Stammeshäuptlings (im Falle einer Häuptlingsfrau der beste Tänzer). Das war eine Möglichkeit, aus der untersten Kaste aufzusteigen. Das Essen wurde auf den Marquesas manchmal knapp und als Frau des Häuptlings musste man nie Hunger leiden.
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Das Zentrum der Siedlung war der tohua, der Festplatz. Manche Forscher sprechen auch von getrennten Festplätzen für das gemeine Volk und für den Adel. Auch ein Tätowierhaus durfte nicht fehlen. Auf den umliegenden, schwer zugänglichen Bergrücken waren Festungen mit Gräben. Die anderen Sippen wurden verehrt, zu gemeinsamen Festen eingeladen und dennoch auch in ritualisierten Kämpfen bekriegt. Gefangene wurden geopfert. Es gab auch rituellen Kannibalismus.
Man schätzt die Bevölkerung der Marquesas im 13. Jhd. auf etwa 75'000. Forscher meinen, dass es wegen des Bevölkerungswachstums und der damit einhergehenden Verknappung von Ressourcen zu vermehrten kriegerischen Auseinandersetzungen kam. Raubbau wurde betrieben und verschiedene Tierarten wurden ausgerottet.
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Dann kamen die ersten Europäer: 1595 entdeckte der Spanier Alvaro de Mandana y Neira die südlichen Marquesas und nannte die Inseln "Las Marquesas de Mendoza", um seinen Sponsor, den Vizekönig von Peru Garcia Hurtado de Mendoza y Marquis de Canete zu ehren. Mandana beschrieb allerdings die Position der Inseln so ungenau, dass sie von anderen Europäern nicht gefunden wurden und 200 Jahre lang in Vergessenheit gerieten. Ab dem 17. Jahrhundert verlagerten sich die Siedlungen vermehrt in die Bergtäler. Die Strände wurden vermieden, vermutlich wegen vermehrter Angriffe vom Meer aus. Die Architektur kam zu ihrem Höhepunkt: Mehrstufige Tempelplattformen (me'ae) wurden errichtet. Die Künste des Tätowierens, der Steinbildhauerei, Knochenschnitzerei und des Kanubaus waren hier so ausgeprägt, dass überall auf der Welt Museumsstücke von den Marquesas zu finden sind.
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Die Kriegerkaste (toa) wurde immer einflussreicher und auch heute gelten die Marquesas noch als die wilden Inseln, nicht nur wegen der Landschaft. Gut erkennbar ist dies an den sehr unterschiedlichen Tänzen, die sich hier im Vergleich zu Tahiti ausgebildet haben (Siehe auch unser Log über das Heiva i Tahiti).
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1767 kommt der Brite Samuel Wallis nach Tahiti und ist so begeistert, dass er zu Hause vom gefundenen Garten Eden berichtet. Er nennt Tahiti "La Nouvelle Cythère" nach der Liebesinsel der Aphrodite. Damit fangen die Südseeträumereien in Europa an. Sieben Jahre nach Wallis ist Cook da - also doch noch ein bekannterer Name auf der Liste. Aber eben, ein Paradies war den Europäern suspekt. Sie schickten Ende 18. Jhd. über 30 Missionare hier hin. 1819 wurden die polynesischen Traditionen verboten (Tänze, Trommeln und Gesang, Tattoos und Religion). Und damit endet auch das davor so ausgeprägte Wachstum der einheimische Kultur. Mitte 19. Jhd. wurden die Marquesas französische Kolonie. Kurz darauf holten sich die Peruaner hier ein paar Sklaven. Die wenigen, die zurückkehrten, brachten die Pocken mit und daran starb etwa die Hälfte der Bevölkerung auf Nuku Hiva und Ua Pou.
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1842 war der Schriftsteller Herman Melville auf Nuku Hiva und beschrieb in seinem berühmten und lesenswerten Roman "Typee" (steht für Taipi(vai)) seine Zeit in einem marquisischen Clan. Er kritisiert dabei heftig die Kolonialisierung und die Missionierung, was nicht alle gern hörten...
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Dank des Einflusses der Franzosen wuchs die Wirtschaft, Arbeitskräfte wurden rar und deswegen holte man ein paar Chinesen. Einige blieben und bilden auch heute noch die grösste Minderheit (12% der Bevölkerung). Das Wenige, was Ende des 19. Jhd. noch von der alten Kultur übrig war, wurde vom Ethnologen Karl von den Steinen zusammengesammelt und in einem drei Bände umfassenden Meisterwerk "Die Marquesas und ihre Kunst" veröffentlicht. Unter anderem hat er die alten, kunstvollen Tätowierungsmuster und ihre Bedeutung akribisch aufgezeichnet. Auf der Grundlage von Befragungen der älteren Einwohner machte er Aufzeichnungen über ihre Legenden, Rituale und Mythen. So finden sich im Museum in Hatiheu, Nuku Hiva, fast nur Aufzeichnungen von Von den Steinen.
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Eingeschleppte Seuchen, aber auch Geburtenrückgang und die Verfügbarkeit von Schusswaffen führten dazu, dass sich die Einwohnerzahl von 75'000 im 13. Jhd., auf 20'000 um 1840 und auf nur noch 2'000 (!) im Jahr 1930 verringert hatte. Diese Zahlen verstehen sich inklusive der Zuwanderer. Somit haben nur vereinzelte Ureinwohner überlebt. So viel also zum Einfluss der Europäer. Aber es geht noch schlimmer: Frankreich machte auf den Toamotu-Inseln Mururoa und Fangataufa über viele Jahre Atomtests, von Anfang an von Protesten begleitet und mit noch immer ungeklärten Folgen. So gibt es beispielsweise Forscher, die die Ausbreitung der Fischkrankheit Ciguatera auf die Atomtests zurückführen. Ciguatera ist in ganz Französisch Polynesien verbreitet und macht Fisch aus den Lagunen für Menschen ungeniessbar. Erst 1996 wurden die Atomtests beendet. Französisch Polynesien wurde schrittweise unabhängiger und ist heute ein POM (pays d'outre-mer). Die Marquesianer fühlen sich von der Zentralverwaltung Französisch-Polynesiens in Papeete nicht ausreichend vertreten und streben eine direkte Angliederung an Frankreich an. Einzige Amtssprache ist französisch, was heute in der Politik heiss diskutiert wird. Es wird befürchtet, dass unter anderem die beiden verschiedenen marquisischen Sprachen (Nord- und Süddialekt) immer mehr verschwinden werden.
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Heute sind die Marquesianer dabei, ihre alte Kultur wiederzuentdecken. Das alljährliche Insel-Festival unterstützt die Ausgrabungen von alten Stätten. Tänze werden wieder aufgeführt und tätowiert ist heute fast jedermann und -frau. Und nicht so kleine Alibi-Tattoos hinter dem Knöchel wie bei uns: Nein, oft grossflächig, manchmal praktisch der ganze Körper. Auch Tattoos auf dem Hals und im Gesicht haben wir gesehen.
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Auch viele Segler können's nicht lassen, sind ganz nervös in den Stunden davor und schreiben danach "nicht nachahmenswert" in ihr Log. Die Schmerzen sind wohl nicht zu unterschätzen. Aber anerkennend müssen wir anmerken: wenn ein Tattoo, dann von hier. Die Marquesianer haben diese Kunst wirklich verfeinert und wir finden die Muster und Formen sehr ansprechend.
Letzte Änderung am 18 10 2013 durch Gesina und Leo. Feedback/Kontakt